Vor langer, langer zeit...

An warmen Sommerabenden hockten die Störche auf alten Eichen entlang des Weges, der von Osten nach Westen führte. Anfang September sammelten sie sich auf einer der Auen. „Die Störche halten ihren Sejm”, sagte man dann und wusste, dass sie bald in den Süden fliegen würden.
Witold und sein Großvater gingen oft nach den Störchen gucken. Auf dem Weg erzählte der Großvater, „warum Witold eines Tages ein Ritter werden würde…”. Das war Witolds Lieblingsgeschichte.
Witold hatte so viele Träume. Es war so schön, über die Felder zu laufen und den Wind zu spüren.
Abends saßen sie alle zusammen: Mutter, Vater, Großvater, zwei Schwestern und vier Brüder. Witold war der Jüngste. Mutter spielte Klavier, meistens Beethoven. Wenn sie Chopin spielte, wurde einem das Herz warm. Aber auch von Beethoven konnte sie etwas spielen, was sehr polnisch klang, wovon man Rückenrieseln bekam. Der Vater ging dann, wie beiläufig, zum Bücherregal. Er kam mit einem Band von Mickiewicz oder Norwid in der Hand zurück. Sie lasen sich Gedichte vor.
Witold wuchs in einem Haus auf, das zwischen Feldern und Wiesen stand. Es sah aus wie ein Schneewittchen-Schloss, hatte Türmchen, Fachwerkeinlagen und einen Wetterhahn auf dem Dach. Es war die Idee eines Onkels gewesen, das Haus auf schweizerische, oder wie man sagte, Berliner Art, umzubauen.
Sonntags, wenn die Bauern auf ihrem Weg in die Kirche an dem Haus vorbeigingen, blieben sie davor stehen und nahmen die Mützen vom Kopf: So schön kam ihnen das „Schloss” des Gutsherren Leon Hulewicz vor.

Das Gut von Witolds Eltern zählte 500 Hektar. Überall sah man Felder und Wiesen. Die flache Landschaft war hier und da von Baumgruppen durchschnitten, in denen dunkle Büschel von Misteln klebten. Westlich vom Schloss standen, zusammengerückt am Wegrand, einige Bauernhäuser, etwas weiter entfernt eine hölzerne Bockwindmühle. Nahe beim „Schloss” war ein kleiner See. Darin spiegelten sich die Wolken.
So sah es in Kościanki aus, einem Dorf auf dem Dreiviertel des Weges zwischen Warschau und Posen, abseits von Hauptstraßen und Eisenbahnlinien.
Ging man vom „Schloss” aus in Richtung Osten, traf man auf eine lebensgroße Statue der Mutter Gottes. Sie stand auf einem Sockel, hatte gemalte, rosige Wangen und immer frische Blumen vor sich stehen. „Königin Polens, bete für uns”, war auf Polnisch in den Sockel gemeißelt.
Als Witold auf die Welt kam, gab es kein Polen. Das Land und seine Bewohner waren zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt worden. Witold bekam mit, wie seine Eltern den Bauernkindern aus der Gegend, Lesen und Schreiben auf Polnisch beibrachten. Dazu musste jedes Kind eine begonnene Handarbeit mitbringen – für den Fall, dass im Gut ein Polizist oder Gendarm aufgekreuzt wäre. Der Unterricht der polnischen Sprache war verboten…
Fragmente des Buches von Agnieszka Karaś, Der Pole, der auch Deutscher war. Das geteilte Leben des Witold Hulewicz, Verlag Oficyna Literatów i Dziennikarzy POD WIATR & fibre Verlag, 2004

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