Freies Polen

Im November 1918 brach in Deutschland eine Revolution aus. Die meisten der in der deutschen Armee dienenden Polen setzten sich ab. Auch Witold.
Kaum hatte er Posen erreicht, erfuhr er von Vorbereitungen zu einem Aufstand gegen die Deutschen. Er schloß sich den Aufständischen an, und baute deren Fernmeldeeinheit auf.
Am 27. Dezember 1918 brach der Aufstand in der Posener Region aus, und endete erfolgreich. Im Februar 1919 wurde in Trier ein Waffenstillstand unterzeichnet. Entlang der von den Aufständischen kontrollierten Gebiete wurde eine Demarkationslinie festgelegt. Laut Versailler Vertrag wurde diese Linie zur Grenze zwischen der wiedergeborenen Republik Polen und der Weimarer Republik.
Aber Witold durfte noch nicht nach Hause. Er mußte noch drei Jahre bei der polnischen Armee dienen. Statt der erträumten „Zdrój“, redigierte er eine Monatszeitschrift der Technischen Militäreinheiten von Großpolen.
Im Winter 1919 brach erneut ein Krieg aus. Diesmal zwischen dem sowjetischen Rußland und Polen. Im August 1920 gelang es der polnischen Armee, die Bolschewiken zum Rückzug zu zwingen.
Zum ersten Mal in Witolds Leben schien es, als müßte man nicht mehr um Polen kämpfen: Witold war Pole. Er sprach polnisch. Er lebte in einem polnischen Staat.
Er schrieb folgendes Gedicht:
Manifest der Neuen Tage (Manifest Nowego Dnia)
Es geschieht ein Wunder in mir.
Es wird in mir eine große Stille.
Ich gebe euch das Gesagte wieder,
alle Fetzen der Vergangenheit.
Christus erwachte in mir,
brachte den Sturm zur Ruhe
und sagte in mir: Sei still.
Es wird in mir eine große Stille.
Der Gottesdienst hat begonnen.
Ich wurde still, um zu sprechen
[…]
„Was macht Witold überhaupt?“. „Wovon lebt Ihr?“ – fragten die Schwiegereltern in einem Brief. Seit 1920 war Witold verheiratet: Noch während seiner Militärzeit war er für einige Tage nach Warschau gefahren, um Verwandte zu besuchen. Seine schwarzen Haare und große, etwas traurige, Augen zogen die Blicke von Anna Karpińska auf sich. Witold und Anna heirateten.

„Gleich nach der Trauung fuhr das junge Paar nach Posen. Die Stadt kam Anna fremd vor, war voller kühler, solider Großpolen, die so anders, als die Warschauer waren. So schrieb Jahre später Agnieszka Hulewicz-Feillowa, Tochter von Anna und Witold, in ihrem Erinnerungsbuch. „Der jungen Ehefrau fielen Pflichten auf den Kopf, denen sie nicht gerecht wurde. Kochen konnte sie nicht. Sie konnte auch nicht sparsam wirtschaften. Die häufige Einsamkeit in der kleinen Mietwohnung konnte sie ebenfalls nicht ertragen: Witold lief «für einen Augenblick» in die Stadt, und kam erst Stunden später zurück. Mal mußte er zum Schriftstellerverband, mal zu einem Freund, mal wurde er von seinem Bruder Jerzy wegen «Zdrój» irgendwohin geschickt.
Die junge Ehefrau wollte aber ein normales Haus haben, wie das Haus, in dem sie aufgewachsen war – solide, bürgerlich – wo am Monatsende nie Geld fehlte […]. Natürlich liebte sie Witold, sie war begeistert von seiner Intelligenz, seiner Phantasie und seinen Plänen für die Zukunft. Bloß, wenn es für ihn, außer der ›Zukunft‹, auch noch die Gegenwart gäbe“.

Immer wieder fuhren Witold und seine junge Frau nach Kościanki. Witold wollte seine Expressionisten-Brüder treffen, Anna wollte Pflaumen pflücken. Manchmal mußte sie sich das Lachen verkneifen, wenn die Ehefrau des Gastgebers Jerzy, mit einem violetten Band um die Stirn und beseeltem Blick, den Gästen entgegenschritt.
Witold wollte seine, im Krieg verlorene Zeit aufholen. Er studierte Philosophie an der Posener Universität, machte eine Verlagslehre, spielte viel Klavier, und übersetzte aus dem Deutschen.
Er war zu seiner Frontlektüre zurückgekehrt: Rilkes Monographie Auguste Rodin hatte er noch in einer Feldbuchhandlung hinter der Front gekauft. Zwischen den Fernmeldeapparaten wachend, hatte er damals Rilke gelesen.
Nun begann er Rodin aus dem Deutschen ins Polnische zu übersetzen. In einem Brief hatte er Rainer Maria Rilke um die Genehmigung dafür gebeten. Eine Antwort hatte er noch nicht, ebenso wenig wie ein ausreichendes Einkommen. Vielleicht deswegen pflegte sein Schwiegervater in Witolds Gegenwart zu sagen: „Es ist eine Schande, kein Geld zu haben. Jeder anständige Mensch sollte es sammeln können“.
Witolds Schwiegervater war Direktor der polnischen Genossenschaftsbank. Es war nicht einfach, über seine Worte hinwegzusehen, da alle Geldscheine in dieser Zeit die Unterschrift des Schwiegervaters Karpiński trugen.
„Kurz nach der Eheschließung zog die Mutter von Witold zu dem jungen Ehepaar. Anna hatte entschieden, daß man die verwitwete Helena nicht alleine wohnen lassen sollte“, schrieb in ihrem Erinnerungsbuch Agnieszka Hulewicz-Feillowa. „Nun waren sie zu dritt, oder eigentlich zu viert, da ein kleiner Gast seine Ankunft für die Zeit um das Neue Jahr ankündigte. Die Stimmung zu Hause war unterschiedlich: Mal gab es Enthusiasmus und Träume, mal kindliche Spiele, dann wieder Verzweiflung und ein Meer von Tränen, danach böse Worte und stille Stunden.
Helena litt unter dieser Atmosphäre, sie versuchte zu vermitteln, zu erklären, einzugreifen. Das machte alles nur noch schlimmer…

Witolds Schwiegervater war Direktor der polnischen Genossenschaftsbank. Es war nicht einfach, über seine Worte hinwegzusehen, da alle Geldscheine in dieser Zeit die Unterschrift des Schwiegervaters Karpiński trugen.
„Kurz nach der Eheschließung zog die Mutter von Witold zu dem jungen Ehepaar. Anna hatte entschieden, daß man die verwitwete Helena nicht alleine wohnen lassen sollte“, schrieb in ihrem Erinnerungsbuch Agnieszka Hulewicz-Feillowa. „Nun waren sie zu dritt, oder eigentlich zu viert, da ein kleiner Gast seine Ankunft für die Zeit um das Neue Jahr ankündigte. Die Stimmung zu Hause war unterschiedlich: Mal gab es Enthusiasmus und Träume, mal kindliche Spiele, dann wieder Verzweiflung und ein Meer von Tränen, danach böse Worte und stille Stunden.
Helena litt unter dieser Atmosphäre, sie versuchte zu vermitteln, zu erklären, einzugreifen. Das machte alles nur noch schlimmer…
Dabei hatten sich Witold und Anna so bemüht. Anna versuchte es sogar mit süßem Gebäck (Witold war naschhaft!). Aber war es etwa Annas Schuld, daß sie etwas Konfitüre in den Hefeteig eingearbeitet hatte, und der Kuchen klitschig geworden war? Oder hätte sie ahnen können, daß man den Speck in einer Pfanne braten muß, anstatt ihn roh zu den Nudeln in das kochende Wasser zu werfen?
Und Witold rauschte der Kopf vor schöpferischen Ideen und kühnen Visionen. Er wollte arbeiten, kreativ sein, organisieren…
Bloß das Leben im Nachkriegspolen war alles andere als stabil. Es war schwierig, für sich eine Lücke, einen Platz zu finden. Außerdem konnte man doch nicht verlangen, daß so jemand wie Witold sich bestimmten Rhythmen unterordnet, daß er pünktlich zu den Mahlzeiten erscheint, daß er jeden Monat eine bestimmte Geldsumme einbringt… Tagtäglich dasselbe: Er kann sich nicht anpassen, sie klagt. Seine Mutter kommentiert, ihre Eltern schicken aus Warschau einen Brief: «Kommt Ihr überhaupt zurecht?». «Wovon lebt Ihr?». «Was macht Witold überhaupt? »“.

Anna, Witold und die kleine Agnieszka zogen nach Warschau. In der Gegend, wo die Vorstadt Jeziorna in den Wald überging, mieteten sie ein Holzhaus (Dort war es billiger). Aber seine Firma, die Verlagsbuchhandlung „Hulewicz & Paszkowski“, gründete Witold mitten in Warschau: In der Wspólna-Straße 59. Witolds Kompagnon, Kazimierz Paszkowski, war ein erfahrener Geschäftsmann. Das Geld für den Start des Unternehmens hatte Witolds Schwiegervater geborgt. Er glaubte, daß es mit Witolds Finanzen nur noch besser werden könnte.
