Ich sehe ihn auf dem Motorrad

Witold wurde Sekretär der Kultur, und Kunstabteilung im Amt des Regierungsdelegierten in Wilna. Als „Beamter der neunten Kategorie für die Angelegenheiten des Denkmalschutzes“ sollte er sich um die Kanzleiführung kümmern. Doch warum war er nach Wilna gekommen?
Schon schmiedete er Pläne, wie er Wilna kulturell beleben könnte. Bei jedem dienstlichen Gang in die Stadt war er wie beseelt.
„Das war die Magie einer Stadt, die nicht im Flachland, sondern auf Hügeln gebaut war. Ging man durch Wilna, so schaute man entweder in die Wolken, oder auf den Boden. Und im Winter fuhr man auf Skiern durch die Stadt“, erinnerte sich der aus Seteiniai in Litauen stammende Schriftsteller Czesław Miłosz. „Wilna übte auf Menschen eine unheimlich starke Wirkung aus […] Diese Stadt war eine absolute Exotik. Die am weitesten im Norden gelegene barocke Stadt. Steile, enge, mittelalterliche Gassen. Was wollte man mehr?“.
„Wenn Sie sich Hulewicz vorstellen wollen, so kann ich Ihnen sagen: Er war ein ziemlich großer Mann, schwarzhaarig, fast arabisch, ein sehr männlicher Typ. Ich sehe ihn auf dem Motorrad… und immer mit einer schönen Frau auf dem Sitz hinter ihm“.
Täglich ging Witold durch das legendäre Stadttor, das „Scharfes Tor“ (Ostra Brama) genannt wurde. Seitlich davon gab es einen schmalen Eingang, hinter dem ein großes Kruzifix hing. Pilgerer küßten die Füße des Gekreuzigten. Über eine steile Treppe gelangten sie zu der Marienkapelle über dem Stadttor. Durch die großen Fenster der Kapelle hörte man die Rosenkranzgebete an die Beschützerin der Stadt. Witold erinnerte sich an die Verse, die Adam Mickiewicz nach der Verbannung aus Wilna geschrieben hatte:
Herr Taddäus (Pan Tadeusz)
Litauen, meine Heimat
Du bist wie die Gesundheit.
Wie man Dich schätzen muß
weiß nur
wer Dich verlor.
Heute beschreibe ich
Deine Schönheit
da ich mich nach Dir sehne.
[…]
Witold spürte, daß er in Wilna Wurzeln schlagen könnte. Bis dahin war er überall fremd gewesen. Unter der preußischen Regierung war er ein Kind, dessen Wurzeln unerwünscht waren, in der deutschen Armee war er ein Pole. In der Posener Region war er ein unverstandener Künstler, und in Warschau war er ein Posener.
„Wilna war eine Stadt der Enklaven“, erinnerte sich Czesław Miłosz. „Dort, wo ich unterwegs war, in der Innenstadt, hörte man fast ausschließlich Polnisch. In den jüdischen Vierteln hörte man Jiddisch. Solche Viertel, wo man Litauisch hätte hören können, gab es nicht, denn zu dieser Zeit lebten in Wilna nur wenige Litauer. Um Litauisch zu hören, mußte man in die Kirche des Heiligen Nikolai gehen. Dort wurden Messen in litauischer Sprache gehalten“.
Wilna wurde „Jerusalem des Nordens“ genannt. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts lebte dort eine große jüdische Gemeinde. Jüdische Dichter schrieben über Wilna, als die Hauptstadt des Judentums.
„Wilna ist eine Linse, welche die scharf gezeichneten Strahlen unterschiedlicher Nationalitäten bündelt“, schrieb Witold über seine neue Heimatstadt. Mehr als acht Konfessionen waren in Wilna vertreten. Witold wanderte durch die unierten Kirchen, wo man den orthodoxen Ritus beibehielt, und gleichzeitig die Obrigkeit des Papstes anerkannte. Er ging durch die karg eingerichteten lutherischen und calvinischen Kirchen. Er sah jüdische Gebetshäuser und muslimische Minarette. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er „Kenessen“, die Gebetshäuser der Karaimer. Männer, die dunkelrote orientalische Mützen trugen, versammelten sich dort. Ihre Vorfahren waren vor Jahrhunderten aus der Türkei eingewandert. Die Einrichtung der „Kenessen“ erinnerte an Synagogen. Auch die Religion der Karaimer gründete sich auf das Alte Testament.
Witold wollte nicht wahrhaben, daß man in Wilna die Zugereisten nicht mochte, obwohl man in der Stadt das Zusammenleben verschiedener Völker gewohnt war. Daß besonders unwillkommen in Wilna die „Beamten aus Warschau“ waren.
„Menschen aus Zentralpolen verstehen unsere Stadt nicht“, pflegten die Wilnaer zu sagen: Anstatt die Perlen der Architektur zu bewundern, klagten die Fremden über Wilnas schlechte Straßen, und fragten nach der „dominierenden Religion“ in dieser multikulturellen Stadt.
In Wilna gab es „die Hiesigen“, erinnerte sich Czesław Miłosz. Es gab sogar die »hiesige Sprache«, in welcher das Wort „durchaus“ („bynajmniej“) nicht ohne Bedeutung war: „Jemand sagte zum Beispiel: Wir trinken auf das Wohl jenes und dessen, worauf ihm ein Anderer antwortete: Durchaus!“.
Die „Hiesigen“ hatten Witold Hulewicz als „Beamten aus Warschau“ eingestuft. Es kursierte sogar das Gerücht, daß er ein Spion des polnischen Geheimdienstes sei – er verkehrte doch in den Kreisen des Regierungsdelegierten.
Witold ließ sich nicht abschrecken. Er schrieb sich an der Wilnaer Universität ein, um sein Studium abzuschließen. Er gewann den Prozeß um die Erziehungsrechte, und holte seine dreijährige Tochter nach Wilna. Da er von den Pflichten des alleinerziehenden Vaters, Künstlers und Beamten überfordert war, lud er seine Mutter nach Wilna ein. Sie kam mit einem Nachtzug aus Posen, und kündigte noch am Bahnhof an, daß sie so lange bleiben würde, wie ihr Sohn das wünsche.
Witold träumte von der Gründung einer neuen Zeitschrift. Ein Organ für Kunst und Literatur würde Wilna gut tun. In der Stadt gab es, abgesehen von der fremdsprachigen Presse, drei polnischsprachige Zeitungen. Die eine Zeitung – „Dziennik Wileński“ – war das oppositionelle Blatt der Nationaldemokraten. Das zweite Blatt – „Kurier Wileński“ – verwendete seine meiste Energie darauf, mit der dritten Tageszeitung einigermaßen Schritt zu halten. Diese dritte Tageszeitung war „Słowo“, das populärste Blatt im Osten Polens.
Dessen Chefredakteur war Stanisław Mackiewicz, Pseudonym Cat. Manche vermuteten dahinter einen Hinweis auf seinen katholischen Glauben. In Wirklichkeit leitete Mackiewicz sein Pseudonym von dem schlauen Kater aus Kiplings The Cat that walked by himself ab. Cat kam aus der Gegend um Wilna und stand den einheimischen Großgrundbesitzern nahe: Sie finanzierten sein Blatt. „Słowo“ wurde nach dem Vorbild der „Action Francaise“, eines Organs der Pariser Royalisten und Nationalisten redigiert. „Mackiewicz träumte von der Wiederbelebung des Litauischen Großfürstentums als eines Mehrvölkerstaates. Für die beste Staatsform in einem Mehrvölkerstaat, hielt er die Monarchie“. So verstand sich „Słowo“ als „Posten des Konservatismus“ an der Vorschwelle zur Sowjetunion und als „Unterstreichung der polnischen Antithese zur russischen Revolution“. Cat war ein brillanter Publizist: Sein Blatt lag auf den Schreibtischen der Politiker in Warschau, und hatte sogar Leser im Vatikan.
Aber Witold wollte nicht gegen Cat konkurrieren. Mit der Gründung seiner Zeitschrift für Kunst und Literatur, wollte er lediglich eine Marktlücke schließen.
Im April 1925 erschien die erste Nummer der neuen Zeitschrift „Tygodnik Wileński“ („Wilnaer Wochenblatt“). Deren Chefredakteur Witold Hulewicz berichtete vom beneidenswerten Theaterleben Warschaus. Danach ging er zu den zwei „armseligen Rampen“ Wilnas über, die eine Farce nach der anderen inszenierten, und von Abfällen der Operette lebten. „Wilna hat Künstler“, schrieb Hulewicz. „Diesen Märtyrern teilen wir unser Beileid mit. Es wird besser werden“.
Witold beantragte eine Dienstreise. Er fuhr nach Warschau, um mit dem Regisseur Juliusz Osterwa zu sprechen. Das von ihm geleitete Ensemble „Reduta“ steckte in einer Krise, da ihm eine wichtige Förderung soeben gestrichen worden war.
Hulewicz wollte Osterwa dazu bringen, mit seinem Theater nach Wilna zu ziehen. Er beschrieb ihm seine Vision der Eroberung Wilnas, nahm ihn dorthin mit. „Nach diesem Besuch war Osterwa ganz benommen von Wilna“, erinnerte sich Tadeusz Byrski, ein Mitglied des Ensembles.
Schon im Mai konnte Hulewicz in seiner neuen Zeitschrift verkünden: „Reduta“ zieht nach Wilna um! „Hundert junge, feurige, schöpferische Seelen werden auf Wilna stürzen!«“.
Witold wurde zum literarischen Leiter des Ensembles. Kurz darauf konnten die Wilnaer in der »Słowo« lesen: »Es kam ein ungebetener Gast, gründete eine Zeitschrift, und will uns belehren. Niemand bat ihn darum«.
Neben seiner Arbeit im Amt und seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Chefredakteur der „Tygodnik Wileński“ und literarischer Leiter des „Reduta“ – Theaters, übersetzte Witold – nachts – aus Rilkes Werk.
Zum besseren Verständnis des Malte-Romans und der Elegien, hatte er an Rilke zwei ausführliche Fragebögen gesandt. Rilkes Antworten auf Hulewicz Fragebögen gelten, auf der ganzen Welt, als Schlüssel zu Rilkes Werk.

Am 15. November 1926 hatte Hulewicz schlechte Nachrichten für Rilke. Es ging um die Herausgabe seiner Übersetzung des Malte: Der Warschauer Verleger war von dem defizitären Projekt zurückgetreten, nachdem er die Forderung des Leipziger Insel-Verlags erfahren hatte: 350 Mark für die Übersetzungsrechte.
Auf dem Briefpapier seiner, mittlerweile eingestellten Wochenzeitschrift für Wilna, schrieb Hulewicz an Rilke: „Dreihundert Deutsche Mark = über 720 Złoty: Das bedeutet ein Dreimonatsgehalt eines ziemlich gut besoldeten polnischen Beamten. Es ist nicht denkbar, daß die Höhe des zu zahlenden Betrages bei einem Verlagshaus wie dem Insel-Verlag eine Rolle spielen kann. Das Ergebnis der Verhandlung mit Leipzig ist für mich doppelt bitter, weil ich selbst auf einen Gewinn verzichtete, nur, um dies einzige, hervorragende und von mir mit soviel Liebe umgebene Buch gedruckt in den Händen der polnischen Leser zu sehen…! Könnte hier nicht die Intervention Ihrerseits stattfinden? Wäre Herr Hünich nicht doch zu bewegen, auf eine Geldzahlung zu verzichten oder dieselbe auf 100 Mark herabzusetzen und die Zahlung auf 2-3 Monate über den Termin des In-Handel-Setzens hinauszuschieben? Ich kann nicht ruhig darüber nachdenken. Bei einer Beschlußänderung wäre vielleicht – vielleicht – noch alles zu retten, aber nicht vor Neujahr – es ist zu spät“.
Der zu diesem Zeitpunkt bettlägerige Rilke schrieb an seinen Verleger Anton Kippenberg einen Brief. Er fügte ihm die Meldung von Hulewicz hinzu, und zählte Kippenberg Werke auf, die dank Hulewicz in polnischer Übersetzung erschienen waren: »Rodin, eine handliche Ausgabe der Geschichten vom Lieben Gott, eine Auswahl der Gedichte«. Über die neueste Übersetzung von Hulewicz schrieb Rilke: „An keine Übertragung aber hat Witold Hulewicz soviel Fleiß, Ausdauer und Ehrgeiz gewandt, wie an diesen seinen Malte: (ich, übrigens, hatte auch meinen Teil an der Gewissenhaftigkeit seiner Bemühung: große Fragebögen waren auszufüllen, seitenlange Briefe versuchten, ihn in der genauesten Richtung des Auffassens zu erhalten […]. Soll das alles, wegen ein Paar hundert Mark (unaufbringlich im Moment der polnischen Krise, die der deutschen parallel zu verlaufen scheint): soll das Alles umsonst gewesen sein?…“.
Daraufhin erließ der Leipziger Insel-Verlag die besagte Lizenzgebühr für die polnische Übersetzung. Am 28.Dezember 1926 schickte Hulewicz eine Karte mit dieser freudigen Nachricht an Rilke.
Rilke starb einen Tag später in der Schweiz.
Der polnische Malte, auf den Rilke so gespannt war, erschien 1927 in Warschau, einige Monate nach Rilkes Tod.
Witold schrieb eine Einleitung zu dem Buch. Dabei geriet er in einen Ton, als stünde er über Rilkes Grab: „Deine Schritte verhallen. Du hast dich in eine noch tiefere Einsamkeit zurückgezogen. Aber Du warst schon immer einsam“.
Der Polnische „Faust“
A: „Faust“ ist deutsch, sehr deutsch.
B: Ja.
A: Er kann nicht polnisch werden.
B: Doch. Sobald man damit an den polnischen Leser will, muß er polnisch werden.
A: Nationalismus also?
B: So kann man es auch nennen. Aber es geht um mehr.
(Emil Zegadłowicz, Rückmeldung des Belästigten)
1926 verfolgte Witold eine heftige Debatte in der Warschauer Presse. Das Nationaltheater hatte soeben eine eigenwillige Faust-Übersetzung des Dichters Emil Zegadłowicz auf die Bühne gebracht. Die Theaterleute waren begeistert: Endlich gab es eine Faust-Übersetzung, die sich fließend vortragen ließ! Doch die Kunstkritiker waren schockiert über den eigenwilligen Umgang mit dem deutschen Klassiker.
Witold Hulewicz beteiligte sich an der Debatte, und dokumentierte sie in seinem Buch Der polnische „Faust“.
Beethovenisierung Litauens
Wie ein Getriebener, übersetzte Witold die Werke von Rilke, und veröffentlichte einen Pressetext nach dem anderen. Aber sein Buch über Ludwig van Beethoven schrieb er sieben Jahre lang.
In der letzten Arbeitsphase, inmitten deutschsprachiger Briefausgaben und Tagebücher sitzend, ließ er sich, die Musik von Beethoven spielen. Dabei kam ihm der Gedanke, daß alle Menschen diese Musik hören sollten.
Im Osten Polens gab es noch kein Radio, also fuhr Witold mit seinem Motorrad durch Dörfer und Städtchen Litauens, und wo immer es ein Klavier gab, spielte er die Musik „seines Komponisten“. Er spielte in Gemeinschaftshäusern und Schulen für Dorfkinder und Greise, manchmal inmitten von Hunden, Katzen und Hühnern. Er nannte das: Beethovenisierung Litauens.
Sein Buch Der Landstreicher Gottes. Beethoven – Werk und Mensch (Przybłęda Boży. Beethoven, czyn i człowiek) erschien 1927 bei einem Posener Verlag. Die Geschichte des taub werdenden Komponisten war mit dem Motto versehen:
Der heilige Franziskus schrieb, als er blind war
den „Sonnengesang“. Erst als er blind war.
Oft unterbrach Witold seine, auf biographische Fakten gestützte Beschreibung des Lebens von Beethoven, um über die psychische Verfassung des Komponisten zu phantasieren: „Also laßt mich jetzt, in Ruhe, und für immer niederschreiben, was ich hörte, ehe ich zum Krüppel wurde […]. Es ist nicht lange her. Ich weiß noch, wie der Wind in Bäumen saust, wie die Linde von den Bienen tönt, wie der Stein im Wasserfall dröhnt, wie die Hitzesinfonie mit Tönen funkelt. Ich kenne alles Geplätscher, alle Geräusche, Geflüster, Pfiffe, das Rauschen, das Zischen, das Donnern […]. Ich habe das eingeschlossen, mit Harmonie umrahmt. Ich habe alle Gewitter verewigt, die Donner, die Stürme, den Regen […]. Und die Stille. Ich hörte. Nichts, was klang, war mir fremd“;
„Die Ohren werden taub […]. Noch wenige Jahre, und ich werde stocktaub sein. Und dann werde ich kom-po-nie-ren.
Aber ich werde euch mein Blatt zeigen müssen, das Blatt mit meiner letzten Komposition. Es wird weiß sein, schneeweiß, wie mein Gesicht jetzt. Nichts wird darauf stehen – n i c h t s! […]“.
Hulewicz zeigte den theoretischen Hintergrund des „größten Ideologen der Musikgeschichte“, wie er Beethoven nannte. Er versuchte, die Kompliziertheit der künstlerischen Arbeit zu veranschaulichen, indem er Beethoven in unterschiedlichen Momenten seines Künstlerdaseins zeigte – von der Armut bis zum Ruhm, begleitet vom Gefühl, unverstanden zu sein. Basierend auf der Kenntnis der Briefe von Beethoven und aufgrund seiner eigenen Erfahrung, schrieb Hulewicz innere Monologe für seinen Protagonisten: „Manchmal kommt das Nachdenken, die Abrechnungen mit dem künstlerischen Gewissen. Der Ruhm ist da, und er lockt; der Reichtum – alle paar Schritte könnte man sich bedienen; die Karriere – sie bahnt sich an, ganz real, schon begonnen… und wie breit! Die Möglichkeit der schöpferischen Arbeit? – …Ob das alles diese Arbeit erleichtert?“.
Hulewicz beschrieb Beethoven vor dem Hintergrund seiner Epoche, zwischen anderen Menschen, unter anderem in der Reibung mit Johann Wolfgang von Goethe. Er schilderte die Begegnung der beiden Künstler in einem Kurort: Beethoven erschien dabei wie ein Nonkonformist, Mensch aus einer anderen, in die Zukunft greifenden Epoche, Goethe dagegen – wie ein Pragmatiker: „Beethoven konnte Goethes Suche nach dem Schein nicht begreifen“, schrieb Hulewicz. „Seine unmittelbare, rauhe und ehrliche Natur, sträubte sich gegen diese Zeremonien: Maske der Erhabenheit, Rolle des Halbgottes für die Massen, gegen den choreographierten Stolz, der so schnell vor der kaiserlichen Krone einknickte […].
Seine Sensibilität ermöglichte Beethoven die Einsicht in alle Werte des Egmont, in den ersten Teil des Faust, in Goethes Gedichte, Dramen und Romane. Gegenüber seinen Werken fühlte er sich einig und folgsam. Aber er sah keine Harmonie zwischen den Werken und dem Menschen, der sie schuf, keine Harmonie zwischen seinen äußeren und inneren Gesten […]. Beethoven war nicht im Stande, die Idee in Goethes Verstand zu begreifen, während Goethe nicht über die Sonde verfügte, mit der er den Grund des Herzens von Beethoven hätte erkunden können“.
In seiner Monographie hatte Hulewicz Zitate aus dem Tagebuch von Fanna del Rio, einer in Beethoven verliebten Frau, eingearbeitet. So betraf eines der Fragmente Beethovens Haare. Fanna beschrieb, wie man, als Beethoven bereits schlecht hörte, sich seinem Ohr nähern mußte, um ihm etwas zu sagen. Auch Fanna arbeitete sich verlegen durch die Haare, welche Beethovens Ohr bedeckten. Dabei machte sie eine Entdeckung: Wenn man Beethoven ansah, konnte man meinen, seine Haare wären hart und borstig. In Wirklichkeit waren sie aber ganz weich.
Der polnische Schriftsteller Jan Parandowski schrieb: „Vagabund Gottes ist lyrischer als man das von einer Biographie erwarten würde. Es ist eine zärtliche und eindringliche Interpretation eines Menschen und Künstlers“.
Überall war Hulewicz
Im Jahr 1933 feierte der Wilnaer Hörfunksender sein fünfjähriges Bestehen. Witold Hulewicz, „der fremde“, ist dessen Programmdirektor.
Das Jubiläumsheft des Abonnentenblattes „Fala Wileńska“ druckte ein Porträt des 38 Jahre alten Programmdirektors. Auf der expressiven Graphik von Iwo Gall (Bühnenbildner des „Reduta“-Theaters) sah Hulewicz wie ein Diktator aus.
Er hatte schon Tausende von Zuhörerbriefen beantwortet, 230 »Briefkästen« moderiert. Der von ihm geführte Sender war in ganz Polen bekannt, vor allem wegen der Hörspiele. Aber auch der Programmdirektor war im Bewußtsein der Zuhörer. Hier einige Ankündigungen aus der Warschauer Radiopresse: „Wir senden ein Grammophonkonzert mit den Werken von Beethoven. Die Einleitung spricht Witold Hulewicz…“.
„Herrn Hulewicz wurden die Mandeln entfernt… Keine Angst: Sein ›Briefkasten‹ wird weder an Humor, noch an Schärfe verlieren. Die härtesten Gegner der Oper, und die verbissensten Feinde des Jazz, werden weiterhin ihre Schläge bekommen. Aber ab jetzt — mit stärkerer Stimme!“.
„Witold Hulewicz erzählt von seinem Spaziergang durch Wilna“.
„Witold Hulewicz erzählt Wilnaer Legenden“.
„Witold Hulewicz vollendete die Übertragung von Rilkes Stundenbuch. Wir hören Ausschnitte…“.
„Seine Präsenz in Wilna war sehr stark“, erinnerte sich Czesław Miłosz. „Ich meine, im literarischen, im künstlerischen Milieu. Überall war Hulewicz“.

Im Dezember 1932 gründete er „Erwuza“, den Rat der Wilnaer Künstlerverbände. Ein halbes Jahr später wurde er dessen Vorsitzender. „Erwuza“ vereinigte beinahe das gesamte künstlerische Milieu der Region, und bildete, was selten für polnische Verhältnisse war, eine Einigkeit. Mit ihren Protestnoten und Gesuchen, setzte sie viele kulturell-gesellschaftliche Maßnahmen in der Region durch.
„Wir hielten ihn nicht für einen Dichter, sondern für einen Organisator des kulturellen Lebens“, erinnerte sich Czesław Miłosz. „Er wurde von uns, von mir und von meinen Kollegen, mit Respekt, aber auch mit einer gewissen Geringschätzung behandelt, welche üblicherweise Menschen zufällt, die zwar mit Literatur zu tun haben, aber nicht in der ersten Reihe stehen“.
In Wilna gab es die Legende, er sei der Übersetzer Rilkes, „aber das war noch nicht die Zeit für Rilke in Polen. Diese Zeit kam später“, erinnerte sich Czesław Miłosz.
„Er war ein chronischer Vorsitzender“, schrieb der Schriftsteller Ksawery Pruszyński, ein „hiesiger“ Mitarbeiter der „Słowo“. „Dauernd hielt er im Hörfunk Reden, zelebrierte auf Versammlungen, trat an Akademien auf […]. Alles, was er schrieb, war aufgeblasen, banal und künstlich […]. Nur ein Talent mußten wir ihm alle zugestehen – das Organisationstalent […]“.
„Seine Pläne, Wilna kulturell anzukurbeln, versagten ganz und gar […]. Wahrscheinlich hätte man sie ihm verziehen […] – wären nicht diese Umtriebigkeit und der Merkantilismus jenes Reformators gewesen“, schrieb Pruszyński.
„Es war für mich ein Rätsel, auf welche Weise mein Vater seine berufliche Tätigkeit mit dem Schreiben eigener Sachen und dem sozialen Engagement unter einen Hut brachte […]. Er hatte für alles Zeit, war nie müde, immer munter und gesund. Er machte sogar den Eindruck, als ob er noch einen Überschuß an Energie hätte, den er im Sommer beim Tennisspielen, und im Winter beim Skifahren entladen mußte“, erinnerte sich Agnieszka Hulewicz in ihrem Buch.

